„Es geht oft nur noch darum, Kinder so früh und so lange wie möglich wegzuorganisieren“: Eine Kita-Erzieherin berichtet (2024)

BERLIN. KMK-Präsidentin Karin Prien (CDU) hat die Debatte als Reaktion auf den Leistungseinbruch von Grundschülern, den die aktuelle IQB-Studie dokumentiert, angestoßen (News4teachers berichtete): Brauchen wir eine Kindergartenpflicht, um Kinder auf die Schule besser vorzubereiten? Kita-Erzieherin und News4teachers-Leserin Marion berichtet in unserem Forum immer wieder von ihren Erfahrungen. Auch zu einer Kita-Pflicht hat sie eine Meinung – die sie mit grundsätzlichen pädagogischen Überlegungen untermauert. Wir haben einige ihrer aktuellen, überaus lesenswerten Posts im Folgenden zu einem Beitrag zusammengefasst.

„Es geht oft nur noch darum, Kinder so früh und so lange wie möglich wegzuorganisieren“: Eine Kita-Erzieherin berichtet (1)

Keiner kann mir weismachen, dass es uns weiterbringt, wenn wir alle Kinder schon vor der Einschulung verpflichtend in den Kindergarten zwingen. Gerade weil sowieso schon die überwältigende Mehrheit eine Kita besucht. Was wollen sie damit eigentlich erreichen? Die sinkenden Leistungen der Grundschulkinder werden doch nicht davon verursacht, dass zu wenige einen Kindergarten besucht haben.

Ich würde es mir sicher nicht gefallen lassen, wenn mir der Staat vorschreiben wollte, ob ich mein Kind in eine Kita geben soll oder nicht. Damit bringt man Eltern doch nur völlig unnötig gegen sich auf. Ich war als Kind selbst nie in einem Kindergarten, genauso wenig wie all die anderen in meinem Alter, die auf dem Land groß geworden sind. Woher kommt der Gedanke, aus Kindern könne nur etwas werden, wenn sie möglichst von morgens bis abends einen durchstrukturierten, durchgetakteten, von Erwachsenen bestimmten Tagesablauf haben, und alles, was sie tun, darauf abzielen soll, später mal fit für die Schule und noch später fit fürs Berufsleben zu sein.

Lasst Kindern doch mal wieder etwas mehr Zeit, einfach nur Kind zu sein, ohne sie ständig anzuschieben und in eine bestimmte Richtung lenken zu wollen. Kinder lernen so viel ganz von allein. Das Gras wächst auch nicht schneller, wenn man ständig daran zieht. Im Gegenteil, es wird von seinen Wurzeln abgerissen und verkümmert.

Jeder Jeck ist nu‘ mal anders. Das ist doch wirklich nicht so schwer zu verstehen

Ich halte Kindergärten übrigens für eine ganz hervorragende Erfindung. Mich stört nur, dass sie inzwischen zur meist ganztägigen Pflicht für nahezu alle Kinder geworden sind, ohne Rücksicht darauf, ob das für das jeweilige Kind gerade gut oder schlecht ist. Wir reden doch dauernd so viel über die individuelle, komplexe Persönlichkeitsentwicklung, die bei jedem Kind anders verläuft. Und trotzdem erwarten wir, dass sie sich alle von ganz klein auf in große Gruppen einfügen, wo sie eben häufig nicht die Zuwendung bekommen, die sie bräuchten. Natürlich ist jedes Kind anders.

Das eine liebt es, täglich unter vielen anderen Gleichaltrigen zu sein, dem anderen ist das aber vielleicht zu viel Lärm und Stress und es bräuchte viel mehr Ruhe und Rückzugsmöglichkeit. Jeder Jeck ist nu‘ mal anders. Das ist doch wirklich nicht so schwer zu verstehen.

(…)

Auch wenn ich mich in meinen Kommentaren hier meist sehr kritisch über frühkindliche Fremdbetreuung äußere, möchte ich betonen, dass ich keinesfalls Kindergärten grundsätzlich schlecht finde. Im Gegenteil.

Natürlich bieten sie Kindern die Möglichkeit, mit anderen Gleichaltrigen in Kontakt zu treten, gemeinsam zu spielen, Freundschaften zu knüpfen, sich sozial weiterzuentwickeln, Gemeinschaft auch außerhalb der Familie zu erleben. Vor allem weil Kinder heutzutage fast ausschließlich im Kleinfamilienverband aufwachsen und nicht mehr, wie früher, in der Großfamilie mit Großeltern, vielen Geschwistern und manchmal sogar mit Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen. Es gibt auch kaum noch das sprichwörtliche Dorf, das es braucht, um Kinder großzuziehen. Deshalb sind Kindergärten eine gute und wichtige Sache.

Ginge es um die Rechte der Kinder, würde man jedes Kind individuell betrachten

Mich stört nur, dass es inzwischen sehr häufig nicht mehr darum geht, was Kinder brauchen. Es geht oft nur noch darum, dass Kinder so früh wie möglich, so lange wie möglich, wegorganisiert werden müssen, weil sonst der Alltag der Erwachsenen nicht mehr funktioniert und dass das unter den Etiketten „Kinderfreundlichkeit“, „Rechte der Kinder“, „Chancengleichheit“, „Individuelle Förderung“, „frühkindliche Bildung“ usw., verkauft wird. Das ist meiner Meinung nach einer der größten Etikettenschwindel überhaupt.

Ginge es um die Rechte der Kinder, würde man jedes Kind individuell betrachten. Dann würde man sehr schnell merken, dass nicht jedes so gestrickt ist, dass es einer Vollzeitkitabetreuung ab einem, zwei oder drei Jahren in gleichem Maße gewachsen ist.

Heute muss aber der Einjährige schon morgens um halb acht in die Krippe gebracht werden und um halb fünf wird er wieder abgeholt. Nicht weil ihm das so gut tut, sondern allein deshalb, weil seine Eltern arbeiten müssen oder wollen oder weil sie es gerne ein wenig stressfreier haben. Das Bedürfnis des Kindes ist heutzutage oft Nebensache.

Ich verurteile auch nicht pauschal alle Eltern, die eben auch Zwängen unterworfen sind und keine andere Möglichkeit haben. Das Einzige, was ich verurteile, ist die Scheinheiligkeit, mit der wir diese Zwänge, denen wir schon unsere Allerkleinsten unterwerfen, als das einzig Richtige und Beste für sie anpreisen.

(…)

Von uns Erziehern wird erwartet, dass wir jedes einzelne Kind in seiner Individualität respektieren und unterstützen. Da werden Kinder nicht mehr in Reihen aufs Töpfchen gesetzt, um „sauber“ zu werden, so wie es in den Krippen in der DDR üblich war.

Wir sind angehalten, Kinder zu nichts zu zwingen, ihnen bei allem Tun und allen Entwicklungsschritten ihr eigenes Tempo zu lassen, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und ernst zu nehmen, sie niemals anzuschreien oder verbal zu demütigen. Und als Demütigung zählt, wohlgemerkt, bereits ein halb scherzhaft, halb tadelnd hingeworfenes: „Kleine Trödeltante“, wenn ein Kind sich, z. B. beim Anziehen immer wieder in Träumereien verliert. Die Grenzen des Sagbaren sind da inzwischen recht eng gesteckt.

Liebe Politiker, Eltern und an elterlicher Arbeitskraft Interessierte, entscheidet euch doch mal

Unsere Gesellschaft will das freie, autonome, selbstbewusste und selbstbestimmte Kind.
Und dann stecken wir dieses freie, selbstbewusste, autonome Kind mit 25 anderen selbstbestimmten, autonomen, freien Individuen in eine Gruppe und erwarten von unserem pädagogischen Fachpersonal, von dem in den meisten Fällen zu wenig vorhanden ist, diesen 25 selbstbewussten, selbstbestimmten Drei- bis Sechsjährigen stets gerecht zu werden, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen, sie individuell zu fördern, nie ein böses Wort zu verlieren, keinen ungerecht zu behandeln etc. pp.

Liebe Politiker, Eltern und an elterlicher Arbeitskraft Interessierte, entscheidet euch doch mal: Wollt ihr weiterhin Kinder achtsam, bedürfnisorientiert und partnerschaftlich erzogen haben, dann steckt sie nicht in überfüllte Kitas. Oder rückt die Kohle für angemessene Arbeitsbedingungen heraus, die es uns ermöglichen, eure überaus hohen Ansprüche zu erfüllen. Wenn ihr das nicht könnt oder wollt, weil es zu teuer ist, dann hört auf, von uns die Quadratur des Kreises zu fordern.

Individualität, Autonomie, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung beißt sich nämlich mit Massenbetreuung.

(…)

Meine Wunschliste für Erzieherinnen im Kindergarten:

  • Mehr Zeit für die Kinder,
  • Weniger Projekte und Aktionenhype,
  • Verzicht auf „Beobachtungsbögen“ – schon das Wort ist eine Zumutung,
  • Kleinere Gruppen – mehr Personal,
  • Kein von oben aufgedrückter Zwang zur „offenen Arbeit“, nicht jeder Kindergarten ist
    dafür geeignet,
  • Keine Vorschriften darüber, wie viele Elterngespräche wir zu führen haben, wir wissen
    nämlich selbst, wann ein Gespräch nötig ist,
  • Eltern, die ihr Kind so erziehen, dass es in der Lage ist, sich nicht immer und überall aufzuführen, als wäre es alleine auf der Welt,
  • Keine offensichtlich kranken Kinder in der Einrichtung,
  • Hatte ich MEHR ZEIT FÜR DIE KINDER UND KLEINERE GRUPPEN, schon erwähnt?

So, das war’s im Großen und Ganzen schon. Ich finde, das sind durchaus bescheidene Wünsche.

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