„Der Unterricht ist das A und O“: Woran es beim Ganztag in Deutschland hapert – ein N4t Interview mit Bildungsforscher Bos (2024)

„Der Unterricht ist das A und O“: Woran es beim Ganztag in Deutschland hapert – ein N4t Interview mit Bildungsforscher Bos (1)DORTMUND. Der Ganztag an Deutschlands Schulen, vor allem an Grundschulen, wurde in den vergangenen 15 Jahren mit viel finanziellem Engagement ausgebaut. Mit ganztägiger Förderung, so die Erwartung, ließen sich Probleme, die die erste PISA-Studie offenbart hatte, lösen. Vor allem die soziale Unwucht im deutschen Schulsystem, das Kindern aus bildungsfernen Familien weniger Chancen gibt, sollte sich ausgleichen. Eingetreten ist davon wenig. Wilfried Bos, als langjähriger Leiter von so renommierten Studien wie IGLU und TIMSS einer der renommiertesten Grundschulforscher in Deutschland zieht im Interview mit News4teachers Bilanz.

N4t: Mit dem Ganztag verbanden sich nach der ersten PISA-Studie viele Hoffnungen. Mittlerweile herrscht Ernüchterung. Ist der Ganztag gescheitert?

Bos: Zwei große Ziele verbanden sich mit der Einführung der Ganztagsschule – die Politik wollte die Vereinbarkeit von Schule und Beruf verbessern, und sie wollte schwache Schüler zu besseren Leistungen bringen. Als drittes Ziel ist im Lauf der Zeit noch hinzugekommen, Kinder mit hohem Leistungspotenzial, aber schwierigen sozialen Rahmenbedingungen, zu fördern. Das erste Ziel ist weitgehend erreicht worden.

N4t: Die beiden anderen also nicht?

Bos: Beim Ganztag, wie wir ihn in der Regel haben, handelt es sich um eine Nachmittagsbetreuung. Damit ist gewährleistet, dass die Kinder gut aufgehoben sind, während die Eltern arbeiten. Mehr aber meist auch nicht. Dabei geht es natürlich ums Geld. Betreuen ist die billiger als schulisches Fördern. Der Bund hat zwischen 2003 und 2009 vier Milliarden Euro für den Ausbau des Ganztags in Deutschland aufgewendet. Die Länder hingegen wollten möglichst wenig ausgeben. Zusätzliche Lehrerstellen hätten sie nach der bestehenden Aufgabenverteilung finanzieren müssen. Also kam man auf die Lösung: Betreuung, denn fürs Betreuungspersonal sind die Schulträger, also die Städte und Gemeinden, zuständig. Und die können für Betreuungsangebote von den Eltern Gebühren nehmen, was für ein schulisches Angebot gesetzlich nicht ginge.

Zu wenige Ganztagsplätze für Grundschüler – Barley will Rechtsanspruch. Aber: Was ist mit der Qualität?

N4t: Kommt eine unverbindliche Betreuung ohne Anwesenheitspflicht – also der sogenannte offene Ganztag – nicht auch dem Elternwunsch nach flexibler Betreuung entgegen? Viele Eltern wollen ihre Kinder ja gar nicht den ganzen Tag in der Schule lassen.

Bos: Es mag durchaus vielen Eltern recht sein, wenn es keinen gebundenen Ganztag gibt, der ja einen rhythmisierten Tagesablauf vorsieht, aus dem sie ihr Kind nicht mal eben zwischendurch abholen könnten. Das Gros der Ganztagsschulen bietet dementsprechend einen offen Ganztag an. Darunter sind zwar auch Angebote, die eine höherwertige Förderung beinhalten. Es ist dort aber nicht so, dass Lehrkräfte den ganzen Tag in der Schule wären. Echte pädagogische Herausforderungen, etwa Sprachunterricht für Flüchtlingskinder, lassen sich so nicht bewältigen. Das geht nur im gebundenen Ganztag.

N4t: So oder so: Studien kamen zu ernüchternden Ergebnissen, was die Leistungsentwicklung von Schülern an Ganztagsschulen betrifft.

Bos: Der Ganztag, so wie er sich in der Praxis meistens darstellt, hat auf die Leistung keinen Effekt. Das gilt auch für den gebundenen Ganztag, wenn er nur als verlängerter Halbtag konzipiert ist. Irgendwann sind die Schüler ja auch kaputt und ausgelaugt, wenn sie stundenlang im Frontalunterricht sitzen. Wenn ich das zweite und dritte Ziel erreichen will – also die Förderung von schwachen und potenziell starken Schülern –, dann muss die Politik mehr Geld in die Hand nehmen. Dann müssen Möglichkeiten zur Schulentwicklung geschaffen werden, die den Unterricht betreffen. Dann muss es individuelle Unterstützung für jeden einzelnen Schüler geben. Es muss Übungszentren geben. Es müssen vernünftige Lehrerarbeitsplätze vorhanden sein.

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N4t: Dann muss sich also vor allem der Unterricht ändern?

Bos: Der Unterricht ist das A und O. Er muss individuell auf die Schüler zugeschnitten sein, er muss Übungsphasen beinhalten, die nach Leistungsgruppen differenziert sind. Er muss auch inhaltlich an das Schülerinteresse anknüpfen. Wir wissen, dass Lernen umso besser funktioniert, je mehr es an vorhandenes Wissen anknüpft. Und solche Verknüpfungen lassen sich mit projektorientiertem Unterricht, in dem nicht streng nach Fach und 45-Minuten-Takt getrennt wird, am besten erreichen. Wichtig aber auch: Der Tagesablauf ist zu rhythmisieren. Leistungs- und Entspannungsphasen müssen sich abwechseln, sonst ist der Druck zu groß.

N4t: Und keine Hausaufgaben mehr?

Bos: Naja, wenn Schülerinnen und Schüler einer Ganztagsschule am Abend oder am Wochenende lesen oder ein paar Vokabeln lernen, dann ist das schon in Ordnung. Aber grundsätzlich sollte gelten: Wenn die Schule um 16 oder 17 Uhr endet, dann ist Feierabend – übrigens auch für die Lehrerinnen und Lehrer, die sich dann nicht noch zu Hause um die Unterrichtsvorbereitung kümmern sollten. Das müssen sie vorher in der Schule erledigen können.

N4t: Sollten alle Schulen den Ganztag einführen – und dann verpflichtend?

Bos: Nein. Ganztagsschulen haben die Chance, den Eltern ein attraktives Angebot zu machen – auch durch eine stärkere Einbeziehung von Sport und kultureller Bildung. Dies kann auch dadurch geschehen, dass Träger von außen, ob Vereine, das örtliche Theater oder die Musikschule, hereingeholt werden. So wird die Ganztagsschule zu einem Ort der Begegnung, und viele Eltern werden ein solches Angebot schätzen und annehmen. Aber daraus muss man keinen Zwang machen. Manche Familien haben einfach ein alternatives Lebensmodell, das ist zu akzeptieren. Und der Bedarf an Ganztagsplätzen ist im Ruhrgebiet sicher ein anderer als im Bayerischen Wald. bibo / Agentur für Bildungsjournalismus

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